Organisationen sind derzeit drastischen Veränderungen ausgesetzt, das Konzept der klassischen Unternehmenshierarchie scheint überholt. Content-Strategen können eine wichtige Rolle dabei übernehmen, den nötigen Wandel zu meistern.
Wir kennen sie alle: Die klassische Organisationshierarchie, die wie eine Pyramide aufgebaut ist. An der Spitze steht das Management und untergeordnet folgen Abteilungen und Mitarbeiter auf unterschiedlichen Ebenen. Dementsprechend geschieht jegliche Kommunikation „top-down“. „Organisationen sind strukturiert wie Fabriken“, brachte es Jonathan Kahn, britischer Content-Stratege und Inhaber der Agentur together london, auf den Punkt (auf einem Content-Strategy-Workshop im September 2012 in London).
Diese Organisationsstruktur hat den großen wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Welt ermöglicht. Heute wird sie jedoch immer häufiger in Frage gestellt. Auch Kahn ist überzeugt, dass das alte Modell nicht mehr funktioniert und sich Organisationen wandeln müssen, um künftig erfolgreich zu sein (siehe hierzu seine Präsentation „Effective Interaction Designers Change Organisations„). Die Gründe:
Bild von Adrian Paulino
- Konsumenten von Massenprodukten verändern sich zu selbstbewussten Kunden, die ihre Kaufentscheidungen auf Basis von Empfehlungen treffen und öffentlich (im Web) ihre Meinungen vertreten.
- Die Massenkommunikation verliert an Bedeutung und wird zunehmend ersetzt durch individuelle und soziale Publikationsmöglichkeiten im Netz, die allen Menschen zur Verfügung stehen.
- Die Industriegesellschaft hat sich zu einer Wissensgesellschaft gewandelt, in der Know-how die Schlüsselressource für unternehmerischen Erfolg ist und nur lern- und anpassungsfähige Organisationen am Markt bestehen können.
- Hochentwickelte (Kommunikations-)Technologien und entsprechend leistungsfähige Endgeräte sind nicht mehr finanzkräftigen Organisationen und Institutionen vorbehalten – deren Kommunikationsmonopol fällt mit erschwinglichen mobilen Endgeräten, die die Menschen immer bei sich haben.
- Die ökonomische Macht verlagert sich zu den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die aufgrund hohen Innovationspotenzials und intelligenter Organisationsstrukturen am Westen vorbeiziehen.
Der Content-Stratege als „Agent of Change“
Organisationen müssen lernen, sich in diesem zunehmend komplexen Kontext zu bewegen. Die Entwicklungen machen eine Revolution ihrer internen Strukturen und Prozesse nötig, die einschneidende Veränderungen mit sich bringen wird. Besonders die Organisationskommunikation ist hiervon betroffen.
Um die neuen Herausforderungen zu meistern, sollten Content-Strategen eine übergeordnete Rolle einnehmen: als „Agents of Change“, wie es Kahn nennt.
In dieser Funktion geht ihr Verantwortungsbereich weit über die Konzeption und Umsetzung der Web-Kommunikation hinaus. Stattdessen initiieren sie strukturelle Veränderungsprozesse, sorgen für Kooperationen zwischen einzelnen Abteilungen und Teams und designen Arbeitsabläufe und Verantwortlichkeiten. Ihre Aufgabe ist es, die Kommunikationsabläufe in der Organisation so zu verändern, dass sie auf die „Revolution“ effektiv reagieren kann.
Bild von Junior Libby
In den vorangegangenen Posts dieser Serie („Content-Strategie 1“ und „Content-Strategie 2„) hat Doris Eichmeier bereits zentrale Aufgabenfelder des Content-Strategen als „Agent of Change“ erklärt: Es geht unter anderem um die Auflösung so genannter „Content Silos“, die Festlegung definierter Workflows und Tätigkeiten sowie die nachhaltige Bezugnahme auf die übergeordneten Werte und Botschaften (USP) der Organisation.
Alle diese Prozesse haben entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung einer Organisation – nicht nur, was ihre kommunikativen Aktivität betrifft, sondern auch in Bezug auf ihre Struktur und Arbeitsweise. Der Content-Stratege muss dafür Sorge tragen, dass die Organisation insgesamt flexibler, transparenter und kooperativer agiert.
Das Konzept des „Lean Management“
Ein Beispiel dafür, wie eine Organisation aufgebaut werden kann, ist das „Lean Management“. Eric Ries (Autor des großartigen Buchs „The Lean Startup“) spricht hier vom „Validated Learning“. Das bedeutet: Fortwährendes Experimentieren und die Verkürzung des Produktentwicklungszyklus sowie zirkuläre Erhebungen von Nutzerbedürfnissen führen zu einem flexiblen Organisationskonzept, das ständig adaptiert und verbessert werden kann. Die Organisation entwickelt sich auf diese Weise laufend weiter und lernt von ihrer Umwelt.
Dieses Konzept ist mit Sicherheit nicht eins zu eins auf bereits etablierte, große Organisationen übertragbar. Hierarchische Strukturen, die über Jahre gewachsen sind, können nur schwer aufgelöst werden. Doch es enthält interessante Anhaltspunkte, wie organisationsinterne Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden und wohin sie führen können.
Screenshot vom 2.10.2012
„Organisationen sind defekt“
Es ist essentiell für Organisationen, die Bedeutung dieser Veränderungen zu begreifen. Denn nur, wenn sie ihre Struktur und Arbeitsweise „revolutionieren“, können sie auf künftige Risiken und Entwicklungen angemessen und rasch reagieren – insbesondere, wenn es um Online-Kommunikation geht. Jonathan Kahn: „Wenn es um das Web geht, sind Organisationen defekt.“ Den Grund hierfür sieht er nicht primär in fehlenden kommunikativen Kompetenzen, sondern in hierarchischen, unbeweglichen Strukturen, die sich hemmend auf die Kommunikation auswirken.
Er empfiehlt daher multidisziplinäres Arbeiten und verstärkte Kooperation zwischen jungen Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Richtungen den Inhalten einer Organisation nähern und gemeinsam innovative und für die User sinnvolle Content-Konzepte entwickeln könnten:
- Service Design
- Informationsarchitektur
- Content Strategy
- Web & Digital Governance
- User Experience Design usw.
Content Strategy als Motor für Veränderung
Folglich ist der Content-Stratege in seiner Rolle als „Agent of Change“ ein Motor interner Veränderungsprozesse. Er fördert die Entwicklung einer Organisationsstruktur und -kultur hin zu mehr abteilungsübergreifender Kooperation, Offenheit, Transparenz und Flexibilität. Damit macht er die Organisation fit für zukünftige Herausforderungen – und initiiert zugleich erfolgreiche Web-Kommunikation, die auf relevanten Inhalten basiert.
Mich interessiert Ihre Meinung: Wo erkennen Sie strukturelle Probleme in Organisationen, die professionelle Webkommunikation erschweren? Und wie könnte Abhilfe geschaffen werden?
Hallo Frau Radl,
vielen Dank für Ihren sehr inspirierenden post.
Die Ausbildung zum Personalmanager & Change Agent im Sinne von
„Strategischer Partner der Geschäftsführung“, also um klassische
Organisationsentwicklungsthemen und -prozesse und Informationen darüber
„top down“ voranzutreiben, gibt es bereits seit vielen Jahren, allerdings
für den Personalbereich (HR).
„Top down“ war einmal,
„relevante“ Inhalte werden unzensiert von „many to many“
geteilt und kritisch beurteilt (Kommetare) – die technische Infrastruktur macht
es möglich.
Wie bei allen Veränderungen muss zunächst der
Leidensdruck immens sein, dann der befriedigende, da kraftvolle, Machtkampf
aufgegeben werden, um ohnmächtig loszulassen und sich in der veränderten
Umgebung einzufinden und abzufinden – geistig und emotional – und erst wenn man
als Mensch oder Organisation verstanden hat, dass „Steuerung“ nach
dem gewohnten Schema nicht mehr möglich ist – erst dann können erste kleine
Schritt in Richtung veränderter Kommunikation gegangen werden. Dann geht
es zwei Schritte vor – einer zurück usw.
Zu den strukturellen Problemen, verkörpert durch
Richtlinien, Betriebsvereinbarungen, rechtliche Hindernisse usw:
Bisher funktionieren Organisationen aber durch
Abgrenzung, Kontrolle und Steuerung, weniger durch Vernetzung, Vertrauen und
Unterstützung. Dementsprechend muss sich erst das die Haltung (Prägung, mind
set) ändern. Ob das mit bzw. in den „alten“ Köpfen gelingt ist fraglich,
vielleicht bedarf es auch der nächsten Generation, die entsprechende Gehirne
und Haltungen bereits mitbringt. Wer sägt schon gerne an dem Ast auf dem er
sitzt?
Die Veränderung wird also je nach
Unternehmensgröße und –entwicklung Jahre dauern. Hierbei darf man wendige Schnellboote
(start ups) auch nicht mit gigantischen Tankern vergleichen.
Eine starke Verzahnung, enge Zusammenarbeit von
Geschäftsführung, Personalabteilung, Betriebsrat, PR, IT, Rechtsabteilung … –
im Grunde aller an der Unternehmung Beteiligten – notwendig. Ein mutiger
Aufbruch zu neuen Ufern.
Welche Relevanz Inhalte dabei haben kann ich nicht abschließend beurteilen. Wir sollten nicht vergessen – die Information entsteht beim Empfänger der Botschaft. Ich meine es gehört auch noch mehr dazu – der Kontext, also Freiräume für Gespräche, Möglichkeiten zum Dialog, Aufnahmefähigkeit von Botschaften durch gelungene Selbstfürsorge…. Dazu müssen sich die Arbeitsräume verändern oder was wir uns darunter vorstellen, die Arbeitszeiten usw usw – es gibt da sehr viele „Baustellen“.
Fazit: Der Einsatz von Change Agents sind gut. Darüber hinaus ist Geduld für neue
Formen der Kooperation und Kommunikation gefragt.
Viele Grüße aus München,
Eva Lutz
Personalmanager, Change Agent & Trainer
Liebe Frau Lutz,
vielen Dank für Ihren langen und sehr interessanten Kommentar. Sie haben ein paar Punkte angesprochen, die in meinem Post wahrscheinlich etwas zu kurz gekommen sind – das freut mich!
Dass Organisationen in Zukunft weniger auf „top-down“-Steuerung und zunehmend auf Vernetzung und Vertrauen setzen sollten, sehe ich genauso. Natürlich ist es ein langer und beschwerlicher Weg, den mind-set in der Organisation insgesamt zu verändern. Immerhin bestehen dort gewachsene Bedeutungsstrukturen und kollektiv akzeptierte Interpretationsschemata (von der obersten bis zur untersten Ebene), die sich nicht so schnell ändern werden.
Aber ich denke, wir müssen JETZT damit anfangen, uns für strukturelle Veränderungen einzusetzen – je früher, desto besser!
Besonders wichtig finde ich Ihre Bemerkung, dass sich die MitarbeiterInnen von Veränderungsprozessen in ihren Positionen bedroht fühlen. Aus diesem Grund wurde ursprünglich auch die klassisch-hierarchische Organisationsstruktur eingeführt – um die Entscheidungen des Management „unantastbar“ zu machen.
Clay Shirky erklärt das in seinem Buch „Here comes everybody“ anhand der Eisenbahn und schreibt: „McCallum [designed the railroad’s hierarchical organizational structure] to produce ’such information, to be obtained through a system of daily reports and checks, that will not embarrass principal officers nor lesson their influence with their subordinates…“
Bei meiner Arbeit merke ich auch immer wieder, dass beispielsweise MarketingleiterInnen sich gegen Online-Kommunikation sträuben – weil sie auf diesem Feld nicht kompetent sind und fürchten müssen, durch jüngere MitarbeiterInnen ersetzt zu werden.
Bezogen auf Content Strategy kommt erschwerend hinzu, dass sich der Erfolg von Webkommunikation/Inhalten nur partiell in Zahlen fassen lässt und Webprojekte (bzw. die dafür benötigten Ressourcen) daher im Vorhinein entsprechend schwer gegenüber dem Management zu argumentieren sind. Motto: „Warum sollten wir Geld für etwas in die Hand nehmen, dessen ökonomischer Erfolg nicht garantiert werden kann?“
Die Rolle des „Agent of Change“ wäre es in diesem Fall, sich gebetsmühlenartig für Veränderungen einzusetzen – auch, wenn er/sie damit einen beschwerlichen Weg beschreitet.
Ich finde Ihren Zugang jedenfalls toll und danke Ihnen nochmal für die vielen Anregungen.
Mit vielen lieben Grüßen,
Brigitte Alice Radl
Kurzer Off Topic Kommentar, da ich heute schon einige Artikel zum Thema Abmahnwelle gelesen haben: Ich denke Sie sollten noch die Quellen ihrer verwendeten Bilder nachtragen um auf dem sicheren Seite zu sein, das kann eventuell sehr viel Geld sparen.
Vielen Dank für den Hinweis.
OK
Ja, der Zugang wichtiger Daten über Silos hinaus, wird die Vernetzung der Menschen über Hierarchien hinweg weiter befördern. Wir haben auf dem Blog der „Initiative WirtschaftsDemokratie“ mit einem Beitrag begonnen, der sogar noch weiter denkt:
Die Pyramide wird umgedreht. Die Manager werden zukünftig den Experten dienen:
Ist eine Transformation unserer Managementmethoden durch das Web zwingend notwendig geworden?
VG Martin
Frech wie ich bin, möchte ich bezweifeln, dass die Wirtschaft glaubt, für irgendeinen Wandel Content-Strategen zu benötigen. Meine Frage: Was sind eigentlich Content-Strategen konkret?
Das ist ja eine sehr positive Nachricht, dass die Konsumenten endlich aufwachen und die massen PR-Agenturen, die eher auf Kohle anstatt die Wahrheit achten, an der Beseutung verlieren. Prima. Hier sehe ich eine große Chance für guter Qualität Blogs die glaubwürdiges Empfehlungsmarketing verwenden.