Es gibt Zeiten, in denen sich die Ereignisse zu überschlagen scheinen und die Themenagenda fortwährend neu sortiert werden muss. Der Beobachter muss sich im „Wellenreiten“ auf den Issue-Kurven versuchen, um halbwegs einen Überblick zu behalten. Die Bewertung vieler Entwicklungen ist im Grunde genommen die Domäne von Historikern und Fachkreisen oder aber geschieht oftmals erstaunlicherweise schnell „aus dem Bauch heraus“.
In einer Art Best-of-Variante, die eine zeitnahe und ausgewogene Beurteilung erlaubt, soll hier in einigen Facetten angedeutet werden, dass die breite digitale Diskussion sowie darauf aufbauende Social Media Analysen auch die betroffenen Akteure mit einem Mehr an Einblick und Einordnung versorgen können. Im günstigsten, zielorientierten Fall sogar mit klaren Ableitungen für die eigene Verhaltens- und Kommunikationsstrategie. Grundlage ist die Abbildung und Analyse der Themenkarrieren im digitalen Raum.
Schauen wir uns verschiedene Themenkarrieren an:
Der Fall Guttenberg war einfach – das Ereignis schnell zu verstehen und explosionsartig breit zu kommentieren. Andere Issues verhalten sich differenzierter, zeigen auch, dass das Internet eben doch ganz unterschiedliche Bereiche aufweist und eine Fokussierung auf soziale Netzwerke und Freundes- oder Follower-Anzahlen mitunter nur einen sehr begrenzten Blick auf das Geschehen wirft. Es gilt, dass Themenkarrieren sich nicht nur an ihrer Intensität und Tonalität festmachen lassen, sondern auch Kontext und Informationsgehalt eine Rolle spielen.
Bereits in einem vorangegangenen Beitrag (http://pr-blogger.de/2011/02/25/wie-die-gorch-fock-zur-fusnote-wurde-themenresonanz-rund-um-bundesminister-zu-guttenberg/) war dargestellt worden, wie stark sich die Plagiatsaffäre in Nutzerdiskussionen niedergeschlagen hatte. Betrachtet man etwa das Geschehen in populären Diskussionsforen großer Nachrichtenportale, hier beispielsweise Spiegel-Online, dann zeigt sich im Zeitablauf ein mehrgliedriger Verlauf der Aufmerksamkeit von der Entdeckung bis zum Rücktritt. Erstaunlicherweise führt auf der gleichen Quellenbasis das – faktisch unendlich gewichtigere – japanische Mehrfachdesaster nur zu einem sehr überschaubaren Beitragsaufkommen.
Man könnte zunächst versucht sein, hier allerlei hineinzuinterpretieren, etwa bezogen auf die Aktivierungskraft strauchelnder „Helden“ oder auch nur die mögliche Sprachlosigkeit angesichts erlebter Apokalypse. Ein Blick auf die Entwicklung der gesamten Beitragszahlen in diesen Meinungsbereichen unterstreicht sogar noch einmal die Ausschlagshöhe des Fußnoten-Skandals und die nur geringe Auseinandersetzung mit den japanischen Katastrophen.
Doch der erste Schein trügt.
Um die Resonanz zu diesen Vorgängen beurteilen zu können, reicht der Blick auf einzelne Kanäle oder Tummelplätze des digitalen Geschehens nicht aus. So kommt hier neben den großen Meinungsforen insbesondere den Frage-Antwort-Portalen, beispielsweise Yahoo!Clever, gutefrage.net und dem wunderbaren, gerade 15 Jahre alt gewordenen wer-weiss-was, eine hohe Bedeutung zu. Bemerkenswerterweise zeigt die entsprechende Abbildung der Beitragsentwicklung auf diesen Quellen quasi konturgenau den Verlauf der Guttenberg-Kurve, aber ein diametral anderes Bild im Japan-Kontext. Hier wird die Bedeutung wieder zurechtgerückt: Aus dem Nichts heraus werden sehr viele Fragen gestellt und Antworten gesucht.
Viele Unklarheiten und „Informationsdefizite“ stehen plötzlich im Raum der Frage-Antwort-Portale. Nicht jeder vermag direkt einen prägnanten Kommentar auf Meinungsseiten abzugeben. Folglich erhellen die unterschiedlichen Beitragsmuster erst im integrierten Blick die Resonanz und Entwicklung eines Issues: Unterschiedliche Kanäle steuern ergänzende Facetten bei: In verschiedenen Bereichen finden sich die gewichtigsten Fragen und die umfassenden Meinungsspektren. Es wird dadurch auch deutlich, welche Fragen von den Meinungs- und Nachrichtenseiten nicht ausreichend beantwortet werden. Das Defizit öffnet den Raum für die weitere Themenentwicklung, offene Fragen laden zur Inanspruchnahme von Deutungsmacht ein.
In der Social Media Analyse werden diese einzelnen Teilstränge zusammengeführt. Über die Sichtung der Beitragszahlen schafft die semantische Inhaltsanalyse eine ganzheitliche Sicht auf die Themenentwicklung. So legt diese inhaltliche Sicht relevante Themenwechsel offen. Als Beispiel sei hier – das inzwischen schon fast wieder verdrängte – Thema „E10-Kraftstoff“ herangezogen.
Grundlage sind etwa 3.350 Blogbeiträge und -kommentare sowie News-Kommentare auf Spiegel-Online, Welt und anderen Plattformen. In der semantischen Inhaltsanalyse der Zeitspanne zwischen dem 15. Februar und dem 9. März (am 8. März war der so genannte E10-Benzin-Gipfel) zeigen sich die jeweiligen Schwerpunktthemen.
Bis zum 2. März war das Beitragsniveau eher gering, es dominieren Sachfragen und -begriffe. So stehen in den ersten Intervallen noch die diversen Benzinsorten und handelnden Akteure im Vordergrund. Dann jedoch taucht der Vorwurf von „Lügen“ signifikant auf (bereits vorher war vereinzelt von der „E10-Lüge“ die Rede), tags darauf häufen sich die „Probleme“, um immer mehr Negativthemen in den Kontext zu ziehen. In vielen Kombinationen findet sich ein „wehe“ (der Motor nimmt Schaden). Der Eskalationspunkt war hier mit dem 4./5. März erreicht.
Im semantischen Themennetz der signifikanten Nutzerthemen (der Themen also, die deutlich häufiger als sonst üblich verwendet werden) für die Vorperiode stehen Sachthemen im Vordergrund, Probleme bestehen zunächst erst am Rande. Es ist dies die Informationsphase.
Ab dem 5. März ist E10 nur noch der Anlass für den „Unmut“ der „Autofahrer“. Es hat sich ein losgelöster „Proteststurm“ gegen das „unorganisierte“ und „ungeplante“ Handeln der „Regierigen“ entwickelt. Informationsdefizite fördern zumindest die Steigerung zur Protestphase.
Mit diesem ausschnitthaftem Blick auf einige aktuelle, wenngleich nicht vergleichbare Themenfelder soll der Gedanke unterstrichen werden, dass die quantitative und qualitative Verdichtung der Vielzahl unterschiedlicher Einzelbeiträge eine neue Ebene der zeitnahen Themenanalyse entstehen lässt. Die transparentere Themenentwicklung versetzt Akteure in die Lage, das Geschehen viel differenzierter zu verstehen und idealerweise viel passgenauer zu agieren.
Das Web insgesamt ist ein guter Resonanzraum für die großen und kleinen Themen unserer Welt. Themenkarrieren geraten dann in eine fragile Phase, wenn Informationsdefizite eine kritische Größe erreicht haben und die bisherigen Akteure nicht oder nicht angemessen darauf reagieren. Dann reagieren andere.
Aber mit begleitender Social Media Analyse ist so ein Blindflug eigentlich nicht mehr notwendig.
PS: Herzlichen Dank an Dominik Henn für die tolle Unterstützung dieses Beitrags!
Tolle Grafiken. Mit welchm Tool habt Ihr denn die letzten beiden erstellt?
Das Bild ist nur eine interaktive Flash-Visualisierung des Outputs unseres internen Analysesystems (Eigenentwicklung) bzw. ein Screenshot davon. Das Flash-Tool ist hier zu finden –> http://asterisq.com/
Viel Spaß,
Dominik