Wer hat eigentlich nach einem Interview das letzte Wort? Der Journalist oder der Interviewte? In der Vergangenheit ist es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen PR-Verantwortlichen und Journalisten darüber gekommen, ob und mit welchem Recht ein Interview vor der Veröffentlichung gegengelesen werden darf. Ein journalistisches Interview ist ein klassisches Recherchemittel, mit dem in der Regel das Ziel verfolgt wird, einen Sachverhalt zu klären. In Deutschland ist es durchaus üblich, dem Interviewten das fertige Ergebnis autorisieren zu lassen. Dabei ist es gängige Praxis, nur die Passagen eines Textes oder die letzte Fassung eines Interviews gegenlesen zulassen. Doch es kommt immer zu Situationen, in denen Journalisten aufgrund ihres Selbstverständnisses nicht bereit sind, ihre Texte freigeben zu lassen. In der Regel ist es auch für die PR von Nachteil, darauf wirklich zu bestehen. Bisher schien hierbei das letzte Wort immer auf Seiten der Presse gelegen zu haben. Auf derlei Auseinandersetzungen geht auch ein älteres Papier des Bundesverbandes deutscher Pressesprecher näher ein.
Doch die Verhältnisse wandeln sich: In der New York Times ist vor wenigen Tagen ein grandioser Artikel zur neuen Macht der Interviewten (Anmeldung erforderlich) veröffentlicht worden. Anhand von zahlreichen Beispielen wird gezeigt, wie sich in Web 2.0-Zeiten das Gleichgewicht zu Gunsten der Befragten verschoben hat. Wer als Interviewter mit einem journalistischen Ergebnis nicht zufrieden ist, sich ungerecht behandelt fühlt und sich dennoch mit dem Journalisten oder Medium nicht einigen kann, hätte heute durchaus die Möglichkeit, sich mit Blogmitteln zur Wehr zu setzen.
Das Empowerment der Konsumenten wirkt sich auch auf die bisherige Praxis aus. Plötzlich gibt es nicht mehr nur eine Version eines Interviews, sondern vielleicht sogar mehrere Versionen: die gekürzte, redigierte Fassung in einem Print- oder Online-Medium und die lange Version (als Rohfassung) im eigenen Blog. Alles scheint möglich zu sein, sogar das Veröffentlichen der E-Mails und des Telefongesprächs. Im Gegensatz zu journalistischen Produkten bleiben die Primärinformationen oder Reaktionen der Interviewten in ihren Blogs länger online. Der journalistische Content verschwindet sehr häufig in den Online-Archiven und ist nur noch für zahlende Onliner verfügbar. Und in Google daher schon bald wieder unsichtbar.
"Subjects of newspaper articles and news broadcasts now fight back with
the same methods reporters use to generate articles and broadcasts –
taping interviews, gathering e-mail exchanges, taking notes on phone
conversations – and publish them on their own Web sites. This new
weapon in the media wars is shifting the center of gravity in the way
that news is gathered and presented, and it carries implications for
the future of journalism. (…)In this new world, the audience and sources are publishers," Mr.
Rosen said. "They are now saying to journalists, ‚We are producers,
too. So the interview lies midpoint between us. You produce things from
it, and we do, too.‘ From now on, in a potentially hostile interview
situation, this will be the norm." (New York Times)
Ob
sich das Modell (heute schon) auf deutsche Verhältnisse übertragen
lässt, ist allerdings noch ein wenig fraglich. Solange die Presse in
einer Branche ihre Gatekeeper-Funktion hat, wird es für jedes
Unternehmen wesentlich sinnvoller sein, nicht scharf aufs Medium zu
schießen, sondern eine elegantere Lösung zu finden.
Trotzdem müssen Journalisten in der heutigen Zeit damit rechnen,
dass die Art und Weise, wie ihre Ergebnisse zustande kommen, hinterfragt
werden. Damit setzen sich nicht nur "ungebetene Kritiker" in Watchblogs (Netzjournalist) auseinander, sondern
auch die Objekte der journalistischen Arbeit selbst.
Empowerment gewinnt auch für die Zukunft des Journalismus eine neue
Bedeutung, stellt nicht unbedingt seine grundsätzliche Rolle in Frage,
sondern könnte wieder dazu führen, dass Qualitätsjournalismus insgesamt
gefördert wird. Denn welcher Journalist will sich schon vorwerfen
lassen, dass er nicht professionell und sauber gearbeitet hat?
>> Pressesprecherverband: Die Autorisierungs-Debatte: Müssen Interviews freigegeben werden? (6 Seiten – PDF)
>> The New York Times: Answering Back to the News Media, Using the Internet
Klaus Eck
Tippp: Der NYT-Artikel ist in einem Blog derzeit besser erreichbar.
http://mediachannel.org/blog/node/2629
Ich setze noch einen drauf und sage: Nicht nur die Interviewten, sondern die Leser, Hörer und Zuschauer (Rezipienten von Medien) selbst haben mit den Blogs ganz neue Möglichkeiten. Ein Beispiel dafür hier: http://37sechsblog.de/?p=209