Spielen ist Lernen – auch wenn es auf den ersten Blick schwerfällt, in dem über 350 Millionen mal heruntergeladenen Casual Game Angry Birds mehr als nur Zeitvertreib zu sehen. Und den suchen nicht wenige von uns: Fast jeder zweite deutsche Internetnutzer besucht Online Gaming-Seiten. Knapp 40 Prozent der Smartphone Besitzer nutzen ihr Handy zum Spielen (comscore 2011). Kein Wunder, dass mehr und mehr darüber nachgedacht wird, den Gebrauch von Produkten oder Services für Nutzer mit Erfolgsfaktoren aus dem Spielesektor attraktiv und belohnend zu gestalten. Das Zauberwort heisst Gamification.
Gamification – was ist das?
Gamification ist die Verwendung von spieltypischen Mechaniken außerhalb reiner Spiele, mit dem Ziel, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen. Und bedeutet damit mehr als simplifizierte Anwendungen von Spielelementen wie Auszeichnungen (Badges), Punktesysteme oder Rankings. Vielmehr sollen die intrinsische Belohnungsmechanismen der Nutzer angesprochen werden, um Motivation, Bindung und Involvement auf- und auszubauen. „Viele Angebote mit Gamification-Elementen ziehen zwar neue Nutzer erfolgreich an, versagen dann aber bei der Beantwortung der Frage ‚What’s in it for me?‘. Spielmechanismen allein stellen keinen Wert dar, sie sind prima für die Akquise, aber es braucht auch Content für die langfristige Bindung“, so Rajat Paharia von Gamification-Dienstleister Bunchball auf dem Gamification Summit 2011 letzte Woche in New York.
Auf dem zweitägigen Summit tauschten sich Praktiker und Dienstleister aus zu Spielmechanismen, User Engagement und Gamification im Unternehmenseinsatz. Ein Unternehmen aus deutschen Landen war auf einem der vielen Panels vertreten, das auf den ersten Blick nicht wirklich nach Spielen klingt: SAP. Und doch war ausgerechnet Podiumsteilnehmer Mario Herger, Senior Innovation Strategist bei SAP, der Einzige, der ein Panel etwas „gamifizierte“: Zu dem beliebten Spiel „Angry Birds“ brachte er Plüschfiguren mit und warf sie den am besten quiekenden Publikumsteilnehmern zu.
So wird Gamification genutzt
Die neueste Marktanalyse zu Gamification von M2 Research wurde auf dem Summit erstmalig präsentiert. Sie listet als aktuelle Einsatzgebiete:
- User Engagement 47 Prozent
- Brand Awareness 15 Prozent
- Brand Loyalty 22 Prozent
- Motivation 9 Prozent
- Training 7 Prozent
Und zwar hauptsächlich in Unternehmen (fast 25 Prozent), gefolgt von Unterhaltungs- und Publishing-Industrie (jeweils etwas mehr als 15 Prozent). Dem Gamification Markt bescheinigt M2 Research rosige Wachstumsprognosen: Der US-Markt für Gamification – heute auf eine Größe von 100 Millionen US-Dollar eingeschätzt – soll bis 2016 auf mehr als 2,8 Millarden US-Dollar ansteigen. Passend wurde gerade die neue Industrievereinigung zu Gamification „Engagement Alliance“ gegründet.
Beispiele für Gamification
Als Beispiel für die Nutzung von Spielmechaniken im Unternehmen stellte Sarah Faulkner von Micorsoft Office Labs vor, wie die Büro-Anwendung Office zum Spiel wurde. Ihr Team wurde dabei tatkräftig von den Spieldesignern des Microsoft Games Studio unterstützt. Das Ergebnis: Ribbon Hero. Das Live-Blog zum Gamification Summit gibt die thematischen Impressionen aus den Sessions und Vorträgen wieder. Faulkners Vortrag ist hier Bringing Games to the Enterprise: How Microsoft Ribbon Hero Makes Productivity Engaging kurz zusammengefasst.
Sehr gut kam das auf dem Summit vorgestellte Beispiel Speed Camera Lottery an: Eine Lotterie zu einer Blitzerkamera ändert das Fahrverhalten der Autofahrer. Trigger ist die Lotterieverlosung der in einem Gewinn gesammelten Strafzahlungen nach Geschwindigkeitsübertretung unter den „braven“ Autofahrern.
Gamification als Treiber für Community-Engagement, Loyalität und Gesundheit
Weitere interessante Anregungen lieferten die Panels Community Rules: Using Gamification to Drive Publishing and Community Engagement oder Loyalty Goes Virtual: Driving Behavior with Gamified Rewards and Location. Zu dem im Gesundheitsbereich angesiedelten Vortrag „SuperBetter: Unleashing Heroic Potential for Health“ steht leider kein Review bereit.
Die Spielentwicklerin Jane McGonigal hat ihren Genesungsprozess nach schwerer Gehirnerschütterung in eine Spielmechanik eingebettet. Künftig können auch andere Menschen diese Plattform Super Better (closed beta) nutzen, um aus ihrem sozialen Netzwerk Verbündete zur Unterstützung ihrer gesundheitlichen Ziele zu rekutieren. Ein sehr interessanter Ansatz, denn gerade im Gesundheitsbereich ist man sehr aufgeschlossen, Elemente aus Spielen zu nutzen. Eindrücke dazu liefert die Panel-Zusammenfassung Behavior Change: Improving Lives & Increasing Longevity with Gamification.
Im Interview: Gamification Summit 2011 Panelist Mario Herger / SAP
Aber zurück zu Mario Herger (@mherger auf Twitter) – im PR-Blogger Interview gibt er uns einen Einblick, wie er zu Gamification gekommen ist, was das Thema mit Social Media gemeinsam hat und wie Gamification im Unternehmenskontext wirkt.
Herr Herger, Sie nahmen auf dem Gamification Summit 2011 als Panelist zum Thema „Gamifying the Enterprise: Performance Enhancing Game Mechanics“ teil. Wie sind Sie persönlich zu diesem Themengebiet gekommen?
Vor etwas mehr als einem Jahr fand in den SAP-internen Entwicklergruppen zu den mobilen Themen (mit mehreren hundert Kollegen darauf abonniert) eine Diskussion zu User Experience von mobilen Applikationen statt. Dabei wurde festgestellt, dass mobile Apps sich sehr stark von Desktop-Apps in der UX unterscheiden, und dabei wurden Elemente erkannt, die weit über die übliche UX hinausgingen. Deshalb wollten wir auf Anregung der Gruppenmitglieder von Softwarebereichen lernen, bei denen UIs als sehr vorbildlich gelten. Und das waren Spiele. Ich habe diese Gruppe gegründet, moderiert und seither das Thema SAP-intern getrieben – und es bislang nicht bereut dabei mitzuhelfen, einen alternativen Ansatz wie diesen salonfähig zu machen.
Vor einem Jahr war der Begriff Gamification gerade erst im Entstehen und damals fand ich nicht mehr als ein paar Hundert Suchergebnisse bei Google. Das hat dann in den letzten Monaten wirklich abgehoben und heute spuckt Google mehr als 3,6 Millionen Seiten aus.
Auch bei SAP ist die Bekanntheit des Themas stark gestiegen, nicht nur konnten wir mehr als 50 Konzepte, Prototypen und Produkte identifizieren, die Gamification quer durch alle Abteilungen bewusst einsetzen. Auch hatten wir eine interne Innovationsveranstaltung (SAP Gamification Cup) bei dem 50 Kollegen in Palo Alto 12 gamifizierte Geschäftsanwendungen innerhalb von vier Wochen als Prototypen bauten und bei dem Wettbewerb antraten. Bei der SAP TechEd vergangene Woche in Las Vegas gab’s dann eine eintägige Veranstaltung namens InnoJam, wo zum ersten Mal gemeinsam mit SAP-Kunden, Partner und SAP-Mitarbeiter innerhalb von 30 Stunden gamifizierte Demos bauen wurden. 13 Demos resultierten daraus, die von 200 Teilnehmern erstellt wurden. Und nicht zu vergessen gab es die Gamification-Keynote, mit der die Game-Designerin und Gamificationexpertin Jane McGonigal die SAP TechEd offiziell eröffnete.
Kritiker sagen Gamification sei nur ein aktuelles Buzzword, das durch die Unternehmen geistert und diesen auf lange Sicht schaden könnte. Warum und wie bringen Sie SAP zum Spielen – nur ein PR-Gag?
Die Kritik wurde mit Social Media vor 2-3 Jahren genauso gebracht. Und raten Sie was passiert ist? Soziale Medien sind nach wie vor nicht nur da, sondern haben sehr stark die Art und Weise, wie früher unpersönlich auftretende Organisationen mit Kunden interagieren, bleibend und vorwiegend zum Positiven geändert. Da gibt’s ebenso keine Zweifel mehr, das das bleiben wird. Insofern ist Gamification kein Buzzword, das wieder verschwinden wird. Meine Generation wuchs mit Videospielen auf. Für uns ist es natürlich, Videospiele zu spielen und wir sind mit den damit einhergehenden Paradigmen vertraut. Diese Generation ist nun verstärkt in leitenden Positionen in Unternehmen und Organisationen tätig und diesen Mechaniken aufgeschlossen.
Klarerweise wird Gamification nicht überall und für jeden Beweggrund Sinn machen. Wir werden eine Bandbreite sehen, wie Gamification eingesetzt wird. Von sehr subtil verwendeten Spielemechaniken, die man beinahe nicht erkennt, bis zum wirklichen Spiel, das keinen Zweifel daran lässt, dass es ein Spiel ist und wo man umgekehrt die Geschäftsanwendung nur andeutungsweise erkennt, und trotzdem ist es eine Geschäftsanwendung. Das bekannteste Beispiel für Gamification bei SAP ist das SAP Community Network (SCN), wo Kundenmitarbeiter, Partner, Berater und SAP-Kollegen bloggen, Code, Integrationsbeispiele usw. bereitstellen, Fragen stellen und beantworten und ganze FAQs aufbauen und dafür Punkte und Badges erhalten. Für die Benutzer die dort in den Top 10 Listen auftauchen hat das direkt monetäre Auswirkungen, weil vorrangig sie zu Projekten angeheuert werden, aber auch Zugang zu SAP Executives, und einen Status, der ihnen erlaubt zu moderieren und die Richtung zu beeinflussen, in die sich das SCN bewegt.
Vampire Hunter ist eines der vielen Konzepte und Beispiele aus dem Bereich der Sustainability, wo man versucht Benutzer zu einem bewussten Umgang mit Energie zu bringen. Indem man die „Energiesauger“ in einem Gebäude identifiziert und diese „Vampire“ entfernt, verdient man nicht nur Punkte, man lebt dadurch auch umweltbewusster. Wenn man dann noch die Popularität von Vampirromanen und -filmen ausnutzen kann, um diese Aktivität mit mehr Spaß zu gestalten und zu besseren Ergebnissen zu kommen, umso besser (weitere Spielbeispiele bei SAP).
Bei aller Begeisterung für Gamification – welche Grenzen sind deutschen Unternehmen beim Einsatz von Spielmechanismen in Weiterbildung und Qualifizierung gesetzt? Und ist SAP ein Beispiel dafür, dass dies konform mit den engen Bestimmungen möglich ist?
Überall dort wo Datenschutz und arbeitsschutzrechtliche Vorschriften sehr streng sind, wird man in dieselben Herausforderungen laufen, wie soziale Medien, Einkaufswebsites etc. Wer kann auf die bei gamifizierten Anwendungen gesammelten Daten zugreifen? Wie werden sie verwendet? Immerhin geben die Daten einen Einblick in die Leistungen eines Mitarbeiters. Da stellt sich die Frage, wie das Management die Daten verwendet, um über Beförderungen oder Entlassungen zu entscheiden.
Generell betreten wir durch Gamification und diesen angesammelten Daten Neuland. Das wird der vermutlich größte Datenaggregator werden, mehr Daten über Individuen ansammeln, als Facebook und andere Aggregatoren es heute tun. Jede Aktivität eines Mitarbeiters wird so aufgezeichnet, die Reputation jedes Einzelnen aufgebaut. Was passiert damit, wenn ich das Unternehmen verlasse? Kann ich die Daten mitnehmen und in meinem neuen Unternehmen einbringen? Ein ganzer Bereich für Rechtsauslegung und soziale Etikette öffnet sich da.
Bis dato tun sich Organisationen sehr schwer, die Leistung eines Mitarbeiters richtig zu bewerten. Der in der freien Marktwirtschaft oft gefällte Satz, dass man je nach Leistung entlohnt und befördert wird und somit dieses System das objektivste ist, stimmt so sicherlich nicht – und wir wissen es alle aus eigener Erfahrung. Es ist weder ein System, das Leistung wirklich objektiv entlohnt, noch eines, das dem einzelnen Mitarbeiter einen Weg vorgibt, wie er oder sie besser werden und auf der Karriereleiter weiter kommen kann. Auch beantwortet es nicht die Frage wie die eigenen Vorgesetzten zu ihren Positionen kamen. Bei Spielen ist das immer transparent und für alle sichtbar. Das an sich ist schon motivierend.
Dann gibt es klarerweise ethische Probleme. Spiel ist freiwillig, Websites die Spielemechaniken benutzen besuche ich freiwillig. In der Arbeit muss ich mit dieser Anwendung arbeiten. Wenn Gamifizierung nicht richtig eingesetzt wird, keinen ausgewogenen Mix für die Benutzer bietet, sich in den Vordergrund drängt, der zugrundeliegende Prozess schon mal schlecht ist, dann wird das rasch kontraproduktiv. Man muss non-gamifizierte Inseln einrichten, da acht Stunden „spielen“ auch ziemlich erschöpfend sein kann. In der Geschäftswelt ist das Wissen, wie Gamification oder Spiele designt werden, momentan in nur geringem Ausmaß vorhanden, da wird sicherlich sehr viel falsch gemacht werden und eine Lernkurve durchschritten werden müssen.
Wie wir auf dem Gamification Summit gesehen haben, ist eines Ihrer Lieblingsspiele das berühmte Casual Game „Angry Birds“. Was sagen Sie Vorgesetzten, Kollegen oder Mitarbeitern, die solche Spiele für reine Zeitverschwendung halten?
Eine meiner Antworten – oder Gegenfragen – ist, ob der Kollege oder die Kollegin Vielfliegermeilen sammelt, mit der Aral Tankkarte Punkte gutschreibt, Nike+ zum Joggen verwendet, die Anzeigen auf Fitnessgeräten gierig betrachtet, oder Rabattcoupons verwendet. Die Antworten sind dann sehr aufschlussreich und weist man sie darauf hin, dass diese Spielemechaniken verwenden, dann erkennen die Kollegen oft die Stärke von Spielen und Spielmechaniken. Auch wenn die Kollegen Kinder haben, dann kennen sie aus unmittelbarer Erfahrung den Wert von Spielen für das Lernen und Begreifen der Welt. Selber ging man ja durch diesen Prozess, aber ab irgendeinem Alter verlor man die Erkenntnis, wie wichtig Spielen ist. Spielen wird negativ behaftet, weil „man selber ist ja erwachsen“ und nur Kinder spielen. Erst jetzt entdeckt man auch in der „seriösen Geschäftswelt“, wie wichtig diese Prinzipien sein können.
Ab diesem Moment wird eine Diskussion zu diesem Thema viel offener und ehrlicher und dann philosophieren wir über mögliche Einsatzgebiete in „Problembereichen“ in ihrer Abteilung oder bei ihrer täglichen Arbeit. Die Betrachtung von Spielen und wie diese ähnliche Probleme lösen und dabei den Benutzer oft mehr fordern und der oder die auch noch Spass dabei hat, gewinnt zumeist selbst den härtesten Skeptiker.
Auch wenn ein Spiel nicht immer den direkten Weg zu einer Lösung bietet, und – wie wir gelernt haben – „Spiele unnötige Hindernisse aufbauen, die wir mit Freude zu bezwingen versuchen“ (siehe dazu beispielsweise Golf) – dann mag es nicht unbedingt effizient sein, aber es kann zu viel besseren Ergebnissen führen. Das klingt im ersten Moment wie ein Widerspruch. Aber bessere Datenqualität, zeitnahere Ergebnisse, weniger Kosten, mehr Erlöse, verbesserte Zusammenarbeit, innovativere Produkte, zufriedenere und engagiertere Mitarbeiter und Kunden – nur um ein paar Faktoren zu nennen – sollten es wert sein, sich mit Gamification auseinanderzusetzen. Es wäre ein Fehler, sich uninformiert und wegen falscher Vorurteile nicht mit den neuesten Erkenntnissen auseinanderzusetzen (und nebenbei ein bisschen Spass zu haben).
Herr Herger, herzlichen Dank für das Interview!
Mario Herger ist Senior Innovation Strategist bei SAP Labs in Palo Alto, Kalifornien und Global Head der Gamification Initiative bei SAP, was beeindruckender klingt als es ist, weil er am untersten Ende der Nahrungskette ist. Er hat in der Vergangenheit als Entwickler und Entwicklungsleiter an einer Reihe von SAP Produkten gearbeitet und mehrere Communities zu innovativen Themen gestartet, die er durch sehr offene und humoristische Kommunikation bei Laune halten muss, sonst würde niemand seine Newsletter lesen. Er hat einen nicht-plagiarisierten Doktor in Technischen Wissenschaften von der TU Wien und scheiterte doch knapp aber umso spektakulärer daran, sein Handelswisssenschaftsstudium an der Wirtschaftsuniversität Wien abzuschließen. Vor kurzem spielte er sich durch alle Levels des iPad-Spiels Air Attack und arbeitet mit seinem viereinhalbjährigen Sohn daran, alle Levels von Angry Birds zu schaffen.
Fotonachweis: Shutterstock / Screenshots Livestream Gamification Summit Doris Schuppe / Portrait Mario Herger